Buchladen Rote Straße – Göttingen

Nikolaikirchhof 7 in 37073 Göttingen Telefon 0551 / 42128 Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. Öffnungszeiten: Mo - Fr: 10 - 18:30 Uhr Sa: 10 - 15 Uhr

 

Buch des Monats


Es gibt kein richtiges Leben im Warmen

Kein Wetterbericht kommt mehr ohne Horrormeldungen aus. Auf Sizilien wurden 48°C gemessen, während in Norditalien ein Hurrikan wütete, Slowenien ging unter, in China und in Texas kochten die Thermometer, so wie letztes Jahr in Pakistan, das Mittelmeer hat sich in eine warme Brühe verwandelt, das Wasser des Nordatlantiks ahmt es nach, die Gletscher schmelzen ab, in einigen Regionen (Europas) ist es viel zu trocken, und ein Sturm tobt durchs Land, der sich in der Jahreszeit geirrt hat – mal sehen, was als nächstes passiert.

Vergangene Extreme, die ihre Außergewöhnlichkeit mit jedem Tag, der vergeht, einbüßen (und neuen Extremen Platz machen), die Wetterausreißer von vorgestern, sind zur Normalität, zur alltäglichen Wirklichkeit mutiert, und längst wird mehr darum gerungen, ob und wie Kommunen Kälteräume zur Verfügung stellen, wenn sich niemand mehr im Glutofen seiner Wohnung aufhalten kann, als darum, wie der Klimwandel abgebremst und begrenzt werden kann – aufhalten lässt er sich nicht, er ist ja schon längst da.

Wir leben nicht in einer Krise, die mit Katastrophen durchsetzt ist, sondern in einer veränderten Welt, in der wetterliche Horrormeldungen nichts Besonderes mehr sind, auch wenn das Fernsehen noch Extra-Nachrichtenblöcke für sie vorhält. Krisen und Katastrophen sind Einschnitte in der Zeit, sie gehen vorbei, aber genau darum handelt es sich beim Klimawandel nicht: er tut das Gegenteil und beschleunigt sich. Dass trotzdem immer wieder von Krisen, Katastrophen und Extremen geredet wird, auch an prominenter Stelle, verschleiert das Dauerproblem eher und führt dazu, dass die alltägliche Veränderung des Wetters samt allen weltweiten Begleiterscheinungen verdrängt wird.

Eigentlich müssten inzwischen auch die Allerletzten begriffen haben, dass mit dem Klima nicht zu spaßen ist (ebenso wenig wie mit anderen menschengemachten Weltveränderungen, die alltäglich geworden sind: das Artensterben, Kriege, globale Armut, Ungleichheit und Unterdrückung). Aber nicht einmal eine banale Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen, die Besteuerung von Kerosin für Flugzeuge, das überfällige Verbot für Kreuzfahrtschiffe oder autofreie Innenstädte sind möglich, sondern die Durchsetzung dieser Vorhaben oder Vorschläge, so scheint es, wird mit einer Revolution gleichgesetzt und daher auf Eis gelegt, auf das Eis, das es immer seltener gibt.

Alle reden über das Klima (fast alle oder jedenfalls viele), aber so gut wie niemand redet und denkt Klartext: dass es so nicht weitergehen kann, jetzt und nicht erst 2030 oder 2050 oder später, und so gut wie niemand denkt radikal, also darüber nach, wie es dazu gekommen ist, dass zu viel Kohlenstoffdioxid und Methan und anderes in die Luft gepustet wird, weil ansonsten deutlich werden würde, dass ein grüner Kapitalismus, ein Kapitalismus 2.0, ein Ding der Unmöglichkeit oder schlicht alter Wein neuen Schläuchen wäre. Auch elektrische Autos brauchen Unmengen an versiegelten Flächen und Lithium aus Bolivien und sonstwo, Windräder entstehen nicht aus Luft und Liebe, und wenn ohne Öl und Gas geheizt wird, zahlen die Ärmeren die Zeche. Bereits 1972 stand im Bericht des Club of Rome, in dem die Klimaerwärmung durch erhöhten CO2-Ausstoß nicht einmal erwähnt wird, dass ein „Weiter so!“ geradewegs irgendwann einen Systemkollaps zur Folge habe. Seitdem wurden Unmengen an Druckerschwärze für Wiederholungen dieser Einsicht und für Lösungsansätze verschwendet, und nichts passierte – seit mehr als fünfzig Jahren. Eine derartige Renitenz ist nicht mehr durch Dummheit oder Phlegmatismus oder Verschwörungstheorien zu erklären.

„Eine erste Übung im kritischen Denken wäre wohl doch, auf die Frage eine Antwort zu finden, wieso solchen Appellen an den guten Willen der Verantwortlichen (…) systematisch auf taube Ohren stoßen“, schreibt Guillaume Paoli, ein französisch-deutscher Philosoph in seinem neuen Buch Geist und Müll. In der Tat, das ist die Kardinalfrage, die auch ein Festkleben auf Autobahnen oder Flughafenlandebahnen nicht beantworten kann, und erst recht keine grüne Regierungsbeteiligung. Und wenn den grünen Minister*innen und Festgeklebten nichts besseres einfällt als die Förderung des Nahverkehrs, so sympathisch Straßenblockaden auch sein mögen, wird das Dilemma um so deutlicher, in dem jene stecken, die schon seit längerem oder zaghaft vermutet haben, dass die Umstellung einer Gasheizung auf Fernwärme oder Wärmepumpen zwar gigantische Profite generieren wird (natürlich nur für wenige), aber dadurch nicht die Ursachen der Klimaveränderung bekämpft werden, schon gar nicht weltweit.

Solche Fragen treiben Guillaume Paoli um. Er hat keine Lösungen, sondern versucht, in 123 kleinen Essays, die manchmal zusammenhängen, überhaupt erst einmal, die ‚richtigen‘ Fragen zu stellen. Es ist eine Übung im kritischen Denken, ohne Garantie auf Erfolg, eine Vorarbeit sozusagen, um zu begreifen, wie es kommt und sein kann, dass alle jenseits der AfD, Trump und Konsorten, von der CDU und Friedrich März bis zur Linken, irgendwie grün sind und dennoch konsequent die falschen Fragen stellen, den richtigen ausweichen und Lösungen anbieten, die im besten Fall dazu führen, dass der Anteil erneuerbarer Energien an der Energieerzeugung in Niedersachsen steigt, während der Export von Müll in arme Länder an- und die Menge an Plastikmüll in den Meeren bald das Gewicht aller Meereslebewesen übersteigt. Sie alle wissen, dass auch Elektroautos Reifenabrieb produzieren – und Sondermüll, sie alle verdrängen, dass es um eine radikale Reduzierung des Individualverkehrs und den absoluten Vorrang von Fußgängern, Fahrrädern und dem (kostenlosen) Nahverkehr ginge.

So konkret wird Guillaume Paoli nicht; er führt der Leser*in aber vor, welche Denkweisen dazu führen, dass diese Verdrängung als normal betrachtet wird und jene, die sich auf Asphalt festkleben, als Terrorverdächtige diffamiert und zu einer ‚kriminellen Vereinigung‘ erklärt werden; dabei spart er nicht mit Kritik an einzelnen Personen, die solche Denkweisen verkörpern. Schweinefabriken sind Tierquälerei und vergiften den Boden, nichts Anderes als ein Verbot wäre zielführend; bei Schweinen und Hühnern ließe sich wohl immerhin noch in Teilen der Linken (und Grünen) Zustimmung zu einem Verbot erreichen, aber wenn es um Schuhe, Klamotten, Smartphones, Urlaubsreisen und andere Konsumgüter geht, dürfte auch bei den meisten von ihnen das Ende der Fahnenstange erreicht sein. Tatsächlich, ausdrücklich erwähnt der Autor das nicht, aber er dürfte damit sympathisieren, gebe es wahrscheinlich nur ein Mittel gegen den Klimawandel: Konsumverzicht, weltweite Umverteilung aller Ressourcen und ein Ende der Warenproduktion.

Und immer wieder, während der Autor die Wirkungsweise von Verschwörungstheorien erklärt oder darlegt, dass unsere Ökonomie auf Müll beruht – ohne Müll kein Wert, und ohne Wert kein Kapital, beharrt er darauf, dass kritisches Denken allein niemals ausreichen wird, auch wenn es das ist, was er versucht. „Mehr denn je tut Revolte not, doch eine, die von Neid und Ressentiment frei ist. Eine Revolte, die nicht vom Modus der Dauerempörung zehrt. Eine Revolte, die weder Märtyrerkult noch Opferidentität kennt. Eine Revolte, die den erhobenen Zeigefinger auslacht, angefangen mit dem eigenen. Eine Revolte, die sich vor Chaos, Widerspruch und Abwegigkeit nicht fürchtet“. Doch ohne Denken, gegen den Strich, ohne die Mühsal der Theorie, wäre das wohl von vornherein zum Scheitern verurteilt; ein wenig Stoff für solches Gegendenken liefert das Buch von Guillaume Paoli, nicht systematisch, sondern ein wenig chaotisch, widersprüchlich und abwegig.

Guillaume Paoli: Geist und Müll. Verlag Matthes & Seitz, 269 Seiten, 22 Euro.

 

Buchempfehlungen 2023

Hier ein Link zu Buchempfehlungen, teils zu neueren und teils zu ein wenig älteren Büchern...

 

Empfehlungen zum Jahres­ende 2022:

Auch in diesem Jahr hat das Buch­laden­kollektiv eine umfangreiche Liste mit Lieblings­büchern für euch zusammen gestellt.

 

 Ausführliche Rezensionen der Bücher findet ihr hier.

 

Graphic Novels:

  • Eva Müller: Scheiblettenkind. Suhrkamp Verlag, 283 S., 28,- €.
  • Gipi: Besondere Momente mit falschem Applaus. Avant-Verlag, 176 S., 30,- €.

Romane, Erzählungen, Sachbücher:

  • Fatma Aydemir: Dschinns. Hanser-Verlag, 368 S., 24,- €.
  • Ann Petry: The Street. Dtv, 384 S., 13,- €.
  • Steffen Mau: Sortiermaschinen. Beck-Verlag, 189 S., 14,95 €.
  • Delphine Gardey: Schreiben, Rechnen, Ablegen. Konstanz University Press, 320 S., 39,90 €.
  • Gary Shteyngart: Landpartie. Penguin-Verlag, 480 S., 25,- €.
  • Alex Beer: Felix Blom – Der Häftling aus Moabit. Limes-Verlag, 368 S., 17,- €.
  • Candice Carty-Williams: People Person. Blumenbar Verlag, 430 S., 24,- €.
  • Dörte Hansen: Zur See. Penguin-Verlag, 256 S., 24,- €.
  • Gianni Jovanovic: Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit. Blumenbar Verlag, 223 S., 29,- €.
  • Dmitrij Kapitelman: Eine Formalie in Kiew. Hanser-Verlag, 176 S., 20,- €.
  • Jacinta Nandi: WTF Berlin. Satyr-Verlag, 216 S., 17,- €.
  • Annika Büsing: Nordstadt. Steidl-Verlag, 123 S., 20,- €.
  • Thomas Halliday: Urwelten. Hanser-Verlag, 461 S., 28,- €.
  • Irene Vallejo: Papyrus. Diogenes-Verlag, 746 S., 28,- €.
  • Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen. Hanser-Verlag, 448 S., 27,- €.
  • Ronya Othmann: Die Sommer. Dtv, 288 S., 12,- €.
  • Stefan Moster: Das Fundament des Eisbergs. Mare-Verlag, 314 S., 25,- €.
  • Christoph Ransmeyer: Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Fischer-Verlag, 288 S., 12,- €.
  • Sherhij Zhadan: Internat. Suhrkamp-Verlag, 300 S., 22,- €.
  • Lea Ypi: Frei. Suhrkamp-Verlag, 332 S., 28,- €.
  • David Mitchell: Utopia Avenue. Rowohlt-Verlag, 745 S., 26,- €.
  • Tanja Pyankova: Das Zeitalter der roten Ameisen. Ecco Verlag, 400 S., 22,- €.
  • Anne Applebaum: Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine. Siedler Verlag, 541 S., 38,- €.
  • Miroslaw Wlekly: Gareth Jones. Chronist der Hungersnot in der Ukraine 1932-1933. Osburg-Verlag, 327 S., 26,- €.
  • Amal El-Mochtar/Max Gladstone: Verlorene der Zeiten. Piper-Verlag, 192 S., 18 €.

Kinderbücher:

  • Der Uhu in der Unterhose. Sauerländer-Verlag, 18 S., 10.- €.
  • Astrid Lindgren: Tomte Tumetott. Oetinger-Verlag, 32 S., 8,- €.(Hardcover: 15,- €).
  • Unser wildes Zuhause. Tiere im hohen Norden. Thienemann, 88 S., 20,- €.

Jugendbücher:

  • Casey McQuiston: Royal Blue. Knaur-Verlag, 464 S., 12,99 €.
  • Nancy Springer: Enola Holmes. Der Fall des verschwundenen Lords. Knesebeck-Verlag, 240 S., 16,- €.
  • Jennifer Estep: Die Splitterkrone, Bd. 1: Kill the Queen. Ivi-Verlag, 496 S., 17,-€.
  • Anna Fleck: Meeresglühen, Bd. 1: Geheimnis in der Tiefe.
  • Coppenrath-Verlag, 496 S., 20,- €.
  • Tanja Stewner: Alea Aquarius, Bd. 1: Der Ruf des Wassers. Oetinger-Verlag, 320 S., 17,- €.